In den letzten Wochen haben die europäischen Debatten über Atomwaffen einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Diskussionen über die Kosten und Nutzen nuklearer Proliferation – also das Streben nach einem Atomwaffenprogramm mit der ausdrücklichen Absicht, ein nuklear bewaffneter Staat zu werden – sind in Teilen Europas so präsent wie nie zuvor.
Leider werden diese Debatten von Deutschland bis Norwegen, Finnland und Polen weiterhin unzutreffend geführt und spiegeln die Realitäten des europäischen nuklearen Umfelds nicht wider. Die nukleare Option wird oft als „schnelle Lösung“ für Europas Sicherheitsherausforderungen dargestellt, doch nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.
Europa steht vor einem nuklearen Dilemma, für das es kurzfristig keine Lösung gibt. Die Weiterverbreitung von Atomwaffen kann nicht schnell erfolgen, Frankreichs erweiterte nukleare Abschreckung ist in ihrer derzeitigen Form nicht glaubwürdig, und alternative Lösungen bleiben suboptimal. Das bedeutet nicht, dass Europa seine Position nicht stärken kann, doch dies erfordert sowohl Zeit als auch erhebliche Investitionen.
Eine schnelle Entwicklung der Bombe?
Kommentatoren in ganz Europa fordern einen schnellen Vorstoß in Richtung Atomwaffen. Das Problem: Das ist weder kurzfristig machbar noch ohne erhebliche Risiken.
Kein europäischer Nicht-Nuklearstaat – ob Deutschland, Italien, Schweden, Norwegen, Finnland oder Polen – verfügt über die zivile nukleare Infrastruktur, um schnell das für eine Bombe benötigte spaltbare Material herzustellen.
Erstens sind europäische Kernreaktoren nicht für die Produktion nennenswerter Mengen waffenfähigen Plutoniums geeignet, und es gibt keine Wiederaufbereitungsanlagen, um die erforderlichen Isotope abzutrennen. Zweitens verfügen einige Staaten zwar über Urananreicherungsanlagen, diese müssten jedoch für die Produktion von waffenfähigem Uran umgerüstet werden – ein zeitaufwendiger Prozess.
Selbst wenn diese Maßnahmen ergriffen würden, könnten sie aufgrund der IAEO-Aufsicht nicht geheim bleiben. Jeder direkte Schritt in Richtung Bewaffnung würde aufgedeckt und könnte politische Isolation, Wirtschaftssanktionen oder sogar präventive Angriffe zur Folge haben.
Hinzu kommt das Problem der Trägersysteme. Angenommen, Finnland gelangt irgendwie in den Besitz von spaltbarem Material – was dann? Die Integration eines Sprengkopfes in einen JASSM-ER-Marschflugkörper wäre ohne Unterstützung von Lockheed Martin und der US-Regierung unmöglich. Selbst der Einsatz von Freifallbomben würde eine Modifikation der F-35 erfordern, die wiederum von US-amerikanischer Zustimmung abhängt.
Analysten übersehen oft, dass eine nukleare Abschreckung nicht automatisch eine glaubwürdige Abschreckung bedeutet.
Beispiel Deutschland: Es verfügt über mehrere hundert Kilogramm hochangereichertes Uran, aus dem mit erheblichem Aufwand 5 bis 15 Sprengköpfe hergestellt werden könnten. Diese könnten theoretisch in einen modifizierten Taurus-Marschflugkörper integriert werden, doch das Ergebnis wäre ein kleines Arsenal, das auf Trägersystemen mit begrenzter Reichweite und geringer Geschwindigkeit basiert.
Ein solches Arsenal wäre kaum überlebensfähig, was bedeutet, dass Deutschlands Vergeltungsfähigkeit keineswegs gesichert wäre – zumindest nicht, solange es sein Arsenal nicht erheblich ausbaut und seine Trägersysteme verbessert.
Ein französischer Nuklearschirm?
Bereits der letztwöchige Beitrag beschreibt ausführlich die Herausforderungen im Zusammenhang mit Frankreichs nuklearer Abschreckung. Das Hauptproblem ist, dass das französische Arsenal – im Gegensatz zur nuklearen Abschreckung der USA, die seit den 1960er Jahren ausdrücklich nicht nur auf den Schutz des eigenen Territoriums, sondern auch auf die nukleare Absicherung europäischer Verbündeter ausgelegt ist – nie für diesen Zweck konzipiert wurde.
Die USA haben ihr Arsenal so strukturiert, dass sie, falls nötig, einen Atomkrieg auf allen Eskalationsstufen führen und gewinnen können. Dies bedeutete nicht nur die Androhung von Vergeltungsschlägen im Namen ihrer Verbündeten – eine Aussicht, die in Europa weitgehend als unglaubwürdig galt –, sondern auch die Fähigkeit, das sowjetische und später russische Atomwaffenarsenal präventiv zu neutralisieren, bevor es gegen europäische Städte eingesetzt werden konnte.
Diese Rolle zu übernehmen ist eine enorme Herausforderung, und das französische Arsenal ist in seiner aktuellen Form schlicht nicht darauf ausgelegt. Das ist keine Kritik an der französischen Abschreckung, die für ihre eigentliche Aufgabe – die Abwehr existenzieller Bedrohungen gegen Frankreich – gut geeignet ist. Aber ohne erhebliche Anpassungen (der letztwöchige Beitrag legt das ausführlich dar) kann das französische Arsenal nicht glaubwürdig den Schutz auf entfernte europäische Verbündete ausweiten.
Die nukleare Zukunft Europas
Die Realität ist, dass es für Europa keine schnelle Lösung gibt, um die nuklearen Lücken zu schließen, die durch einen möglichen Rückzug der USA entstehen würden.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Nuklearfrage vernachlässigt werden sollte. Stattdessen sollten europäische Staaten daran arbeiten, ihre „nukleare Latenz“ zu verbessern – also ihre technische und materielle Fähigkeit, Atomwaffen innerhalb kurzer Zeit zu entwickeln, falls eine politische Entscheidung getroffen wird.
Dazu könnte die Entwicklung europäischer ballistischer Mittelstreckenraketen sowie die Sicherstellung überlebensfähiger Stationierungsmöglichkeiten gehören. Würde Deutschland beispielsweise eine solche Rakete entwickeln und prüfen, ob sie von einem modifizierten U-Boot der Klasse 212 CD aus gestartet werden könnte, würde dies die nukleare Latenz Deutschlands erheblich verkürzen. Selbst eine kleine Anzahl von Sprengköpfen könnte dann eine glaubwürdige Abschreckung darstellen, wenn sie mit Penetrationshilfen und einer durchdachten Einsatzplanung kombiniert wird. (Dies ist jedoch ein rein hypothetisches Beispiel, ohne dass die generelle Machbarkeit vom Autor geprüft wurde.)
Nicht-nukleare Prioritäten
Welche nicht-nuklearen Alternativen gibt es, um Russlands Nukleararsenal entgegenzuwirken? Die unmittelbarste Sorge im Falle eines möglichen Rückzugs der USA ist Russlands Druckmittel, das aus seiner Dominanz auf der nichtnuklearen strategischen Ebene resultiert.
Um dem auf nichtnuklearer Ebene zu begegnen, könnten zwei Fähigkeiten entscheidend sein: Vorwärtsverteidigung und nichtnuklearer strategischer Angriff.
Erstens: In einem Kriegsszenario könnte Russland gemäß seiner Doktrin versuchen, kürzlich erobertes Gebiet durch sein nicht-strategisches Nukleararsenal abzusichern, indem es mit nuklearer Eskalation droht, um jegliche Befreiungsversuche abzuschrecken. Eine wirksame Reaktion auf diese Taktik ist erheblich schwieriger, wenn man nicht in der Lage ist, auf der nicht-strategischen nuklearen Ebene dagegenzuhalten.
Kann kein glaubwürdiges nicht-strategisches Nukleararsenal entwickelt werden, bleibt als beste Alternative, einen solchen Überfall und die anschließenden Nukleardrohungen von vornherein zu verhindern. Dies erfordert eine Vorwärtsverteidigung vom ersten Tag an – ein schwieriges und kostspieliges Unterfangen. Doch dem europäischen Bündnis bleibt kaum eine andere Wahl, als dieses Ziel zu verfolgen, nicht zuletzt wegen des Leids, das Russland in besetzten Gebieten verursacht.
Zweitens: Wenn Vergeltung mit nicht-strategischen Atomwaffen keine Option ist, könnte eine Abschreckung stattdessen durch nichtnukleare Fähigkeiten erfolgen, insbesondere durch konventionelle Langstreckenwaffen.
Dies würde bedeuten, Russland davon zu überzeugen, dass jeder Einsatz nicht-strategischer Nuklearwaffen massive konventionelle Gegenschläge gegen kritische russische Infrastrukturen – sowohl militärische als auch zivile – zur Folge hätte. Wäre diese Drohung glaubwürdig, könnte sie eine abschreckende Wirkung entfalten, wenngleich ungewiss bleibt, wie ernst Russland sie nehmen würde.
Letztendlich kann Europa auf die nukleare Überlegenheit Russlands reagieren, indem es seine nichtnuklearen Fähigkeiten ausbaut. Wie die Debatte über die nukleare Proliferation zeigt, bleibt dies zumindest kurzfristig die einzige realistische Option.
Autor: Fabian Hoffmann ist Doktorand am Oslo Nuclear Project an der Universität Oslo. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Verteidigungspolitik, Flugkörpertechnologie und Nuklearstrategie. Der Beitrag erschien erstmalig am 16.03.2025 in englischer Sprache im „Missile Matters“ Newsletter auf Substack.