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Das iranische Raketenprogramm und der Angriff auf Israel

Waldemar Geiger und Kristóf Nagy

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Der jüngste Raketenangriff des Irans auf Israel am Abend des 1. Oktober 2024 hat rund 30 Minuten gedauert und beinhaltete einen Raketenangriff von rund 180 ballistischen Raketen unterschiedlicher Typen. Erstmals wurde iranischen Angaben zufolge auch die Fattah-1- Rakete eingesetzt, welche erst vor rund einem Jahr öffentlich vorgestellt wurde.

Nach Angaben der iranischen Revolutionsgarden im iranischen Staatsfernsehen, stellt der Raketenangriff eine Vergeltungsmaßnahme für die Tötung von Hamas-Auslandschef Ismail Hanija, Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah sowie eines iranischen Generals dar.

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Im Gegensatz zum Angriff im April, bei dem der Iran 170 Drohnen, ca. 120 ballistische Raketen sowie etwa 30 Marschflugkörper eingesetzt haben soll und den Einsatz zudem weit im Voraus angekündigt hatte, wurde der gestrige Angriff ausschließlich mit ballistischen Raketen ausgeführt. Unklarheiten gibt es hingegen, ob der Angriff ebenfalls angekündigt wurde oder nicht. So behaupten offizielle Vertreter des Iran, dass das Land sowohl Russland als auch die USA mehrere Stunden im Voraus in Kenntnis gesetzt habe – eine Aussage, der die US-Administration widerspricht.

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Als gesichert gilt hingegen, dass Israel im Vorfeld von den USA gewarnt wurde und daher umfangreiche Vorkehrungen gegen den Angriff – Vorbereitung der Luftverteidigung und Alarmierung der Bevölkerung – treffen konnte. Medienberichten zufolge haben US-Satelliten die iranischen Startvorbereitungen aufgeklärt. Dies ist durchaus schlüssig, da einige der zum Einsatz gekommenen Raketen über Flüssigkeitsraketentriebwerke verfügen und so vor dem Einsatz betankt werden müssen.

Die Vorwarnzeit hat es sowohl Israel, als auch seinen Verbündeten erlaubt, die Luftverteidigung so zu organisieren, dass offenbar nur begrenzter Schaden angerichtet wurde. Neben der israelischen Flugabwehr haben sich auch mehrere Kriegsschiffe der U.S. Navy sowie Berichten zufolge auch Jordanien an der Abwehr des Raketenangriffes beteiligt. Wobei nicht abschließend geklärt ist, ob Jordanien nur den eigenen Luftraum für den Einsatz von israelischen und US-Luftverteidigungsmitteln freigegeben hat, oder ob die Streitkräfte des arabischen Landes selbst Raketen abgeschossen haben. Zudem hat auch das britische Verteidigungsministerium mitgeteilt, dass auch britische Streitkräfte bei der Abwehr des Raketenangriffs unterstützt haben, ohne zu spezifizieren, wie die Unterstützung genau ausgesehen hat.

Der angerichtete kinetische Schaden des Angriffes kann als begrenzt bewertet werden. Berichtet wird von zwei Verletzten und einem Toten. Einem im Netz verbreiteten Video zufolge wurde die Person im Westjordanland von einem Raketentrümmer erschlagen, welcher buchstäblich vom Himmel gefallen ist.

Über den angerichteten Infrastrukturschaden in Israel gibt es bis dato keine abschließenden Angaben. Ein fast gleichzeitig erfolgter Terroranschlag in Tel Aviv, der von zwei Angreifern ausgeübt wurde, hat israelischen Behördenangaben zufolge sieben Tote und acht Verletzte gefordert. Ob der Terroranschlag und Raketenangriff koordiniert oder zufällig erfolgt sind, ist zurzeit ebenfalls noch nicht geklärt.

Iranisches Raketenprogramm

Erste Versuche

Das iranische Programm zur Entwicklung und Herstellung ballistischer Raketen reicht zurück in die Zeit vor der islamischen Revolution 1979. Es ist eine seltene Ironie der Geschichte, dass der Iran unter dem Shah sich ausgerechnet an Israel als Lieferant für die benötigte Technologie für die Entwicklung dieser Fähigkeiten wandte.

Das als Projekt Blüte (auf Persisch Projekt Shokoufeh) bekanntgewordene Vorhaben, welches bereits 1977 begonnen wurde, erfuhrt mit der islamischen Revolution im Februar 1979 ein jähes Ende. In dem kurz darauffolgenden ersten Golfkrieg gegen den Iran setzten die iranischen Streitkräfte auf importierte Systeme wie die sowjetischen Scud-Varianten aus unterschiedlichsten Quellen, wie etwa Libyen oder Nordkorea. Die Scud Modelle B und C stellten daher auch wenig überraschend das technologische Fundament der einheimischen Entwicklung dar.

Internationale Beobachter gehen davon aus, dass ab 1988 insbesondere mit nordkoreanischer Hilfe auf Basis der Scud-B erstmalig eine einstufige iranische Kurzstreckenrakete mit Flüssigkeitsraketentriebwerk in Form der Shahab-1 (zu Deutsch Komet-1) entstand. Analysten gehen davon aus, dass der Iran weiterhin über eine beträchtliche Anzahl dieser, als veraltet geltenden Systeme verfügt. Ihr Einsatz gegen Israel ist jedoch wegen der geringen Reichweite von geschätzten maximal 330 km ausgeschlossen.

Der Weg zum eigenen iranischen Raketenprogramm

Anfang der 1990er Jahre erfolgte die Einführung der nordkoreanischen Hwasong-6 unter der Bezeichnung Shahab-2. Neben den direkt gelieferten Systemen entstand vermutlich auch eine iranische Fertigung, welche den lokalen Fachleuten zufolge wertvolle Erfahrungen innerhalb der Produktion von ballistischen Raketen beschert haben muss.

Interessanterweise geht man heute davon aus, dass es sich bei den von Nordkorea auf dem internationalen Markt angebotenen Raketen nicht um eine Eigenfertigung, sondern um die Veräußerung von sowjetischen Scud-C-Überbeständen unter einem eigenen Namen handelte. Unzweifelhaft ist jedoch, dass die Shahab-2 neben der auf 500 km gesteigerten Reichweite, mit einer verbesserten Trägheitsnavigation ausgestattet wurde.

Der Durchbruch in die Kategorie der Mittelstreckenraketen mit vergleichsweise großem Gefechtskopf gelang dem Iran jedoch erst mit der Shahab-3. Auch diese Rakete entstand nachweislich mit nordkoreanischer Hilfe und basiert technologisch auf der Nodong-1, welche erstmalig 1990 von der US-Aufklärung auf der koreanischen Halbinsel detektiert wurde.

Mit der Shahab-3 erhielt der Iran eine ballistische Rakete mit einer Reichweite von knapp 1.200 km und war damit aus Sicht der Mullahs endlich in der Lage, einen Gefechtskopf von bis zu 1.200 kg nach Israel zu verbringen. Die Shahab-3 fungierte seitdem als Basis für eine ganze Familie von Flugkörpern. Als finale Entwicklungsstufe sind sicherlich die 3A und darauffolgende Varianten mit der Bezeichnung Ghadr und Emad anzusehen. Analysten wollen diese Raketen bei den aktuellen Angriffen auf Israel mittels Bildanalysen von Raketentrümmern und Startvideos nachgewiesen haben.

Neben der zusätzlichen, auf GNSS basierenden Navigation verfügen diese Raketen über einen modifizierten Gefechtskopf, welcher westlichen Beobachtern zufolge das Ausführen von Kurskorrekturen im Endanflug ermöglicht. In Verbindung mit einer Geschwindigkeit von bis zu Mach 7 sind die gegen Israel jüngst eingesetzten Shahab-3- Varianten auch für Abwehrsysteme wie Arrow eine Herausforderung.

Auch wenn die ballistischen Mittelstreckenraketen der Shahab-Familie, trotz eines umfassenden Embargos, die Fähigkeit des Mullah-Regimes zur Schaffung einheimischer Entwicklungs- und Fertigungskapazitäten für Flugkörper dieser Klasse dokumentieren, weisen die Konstruktionen der langlebigen Raketenfamilie gewisse Nachteile auf. Als größter Hemmschuh wird gemeinhin das Flüssigkeitstriebwerk angesehen. Die hierdurch umständliche und teilweise gefährliche Betankung der Flugkörper unmittelbar vor dem Start hemmt die taktische Mobilität beträchtlich. Die Entwicklung von Raketen mit Feststoffantrieb kann die Vorbereitungen von teilweise mehreren Stunden auf idealerweise wenige Minuten reduzieren und somit auch die Verwundbarkeit der Systeme drastisch verringern. Zudem sind die Präzision und Zuverlässigkeit von Flüssigstoffsystemen nicht mehr zeitgemäß.

Mit der Sajjil-2 verfügt der Iran jedoch seit Ende der 2010er Jahre über ein einheimisches System mit einem Feststoffraketenantrieb, welcher einen 400 kg Gefechtskopf bis zu 2.000 km verbringen kann.

Moderne Feststoffraketen mit hoher Präzision

Mit der Sajjil-2 führte der Iran einen Paradigmenwechsel in seinem ballistischen Raketenprogramm durch. Fortan lag der Fokus auf Feststoffantrieben, aus den bereits erläuternden Gründen. Zudem setzte man auf eine Erhöhung der Trefferwahrscheinlichkeit, was eine Reduktion der Gefechtskopfgröße und damit höhere Reichweiten erlaubte.

Analog zu den am weitesten entwickelten Shahab-3 bemühte man sich zudem um manövrierfähige Endstufen, welche neben einer höheren Präzisen auch den Abschuss durch Abwehrsysteme erschweren. Die aktuell gegen Israel eingesetzten Systeme mit den Bezeichnungen Dezful und Kheibar Shekan-1/2 basieren dabei auf der Kurzstreckenrakete Fateh-110, welche 2010 erstmalig vorgestellt wurde. Ihnen ist neben der lenkbaren Endstufe eine Spitzengeschwindigkeit von mindestens Mach 3 bei der Kheibar Shekan und bis zu Mach 7 bei der Dezful gemein. Durch die relativ einfache Handhabung und den geringen Aufwand in Bezug auf die Startvorbereitungen können beide Systeme schnell in den Einsatzraum verlegen. Hierzu sind sie auf handelsüblichen 8×8- oder 10 x10-LKWs beweglich.

Die Spitze der iranischen Raketenentwicklung stellt zweifelsohne die im Juni 2023 erstmals öffentlich vorgestellte Fattah-1 Rakete mit einer seitens des Herstellers angegebenen Höchstgeschwindigkeit von bis zu Mach 15 dar. Der zweistufige Feststoffantrieb bringt den Gefechtskopf mit bis zu 450 kg nach offiziellen Angaben bis zu 1.400 km weit. Der Iran hat die Nutzung der Fattah-1 bei dem jüngsten Angriff auf Israel bestätigt.

Fazit

Der Iran verfügt über ein technologisch diverses und sich trotz des Embargos stetig weiterentwickelndes Raketenprogramm. Dies zeigte nicht zuletzt die seit 2020 nachgewiesene Fähigkeit, Satelliten in einen Erdorbit zu verbringen. Das Land kommuniziert zudem recht offen über Neuentwicklungen, was unter anderem wohl auch dem Drohpotenzial dienen soll.

Mit der neuen Generation von ballistischen Mittelstreckenraketen mit Feststoffantrieb und modernen, manövrierfähigen Gefechtsköpfen verfügt der Iran offenkundig auch über Systeme, welche insbesondere, wenn sie in großer Anzahl eingesetzt werden können, in der Lage sind, die israelische Raketenabwehr zu durchdringen. Ob dies rein durch eine Sättigung, oder durch ein Ausmanövrieren, respektive einer Kombination von den genannten oder potenziell weiteren Faktoren erfolgte, wird auch Gegenstand der Analysen der nächsten Tage und Wochen sein.

Weiterhin wird zu beobachten sein, ob sich die Lage in der Region weiter zuspitzt und weitere Angriffswellen folgen werden. Die Art und Weise, wie der Angriff ausgeführt wurde – im Hinblick auf Quantität und Qualität der eingesetzten Raketen – könnte darauf hindeuten, dass der Angriff weniger darauf angelegt wurde, großen Schaden in Israel anzurichten, als vielmehr die Fähigkeit des Landes auf die Probe zu stellen, einen solchen Angriff abzuwehren und gleichzeitig dem eigenen Volk sowie verbündeten Mächten zu signalisieren, dass man die jüngsten Angriffe Israels gegen Führungspersonen der Hamas sowie die praktische Auslöschung der Kommandostruktur der Hisbollah nicht unbeantwortet lassen will.

Gleichzeitig kann festgestellt werden, dass der iranische Angriff mit erheblichen technologischen Risiken für den Iran verbunden war. Sollten, wie vom Iran behauptet, tatsächlich hochmoderne Raketen zum Einsatz gekommen sein, konnten sowohl die US-Streitkräfte als auch Israel wertvolle Daten über das Einsatzprofil der Raketen gewinnen. Diese Erkenntnisse werden sicherlich zur Verbesserung der eigenen Luftverteidigungsfähigkeiten und damit zur Erhöhung der Effektivität der Raketenabwehr bei zukünftigen Angriffen genutzt werden.

Waldemar Geiger und Kristóf Nagy