Die Ereignisse der letzten Wochen haben die Bedeutung einer eigenständigen Verteidigungsfähigkeit Europas deutlich gemacht. Als Reaktion darauf wollen sowohl die Europäische Union als auch eine mögliche zukünftige Bundesregierung erhebliche finanzielle Mittel mobilisieren, um die Verteidigungsfähigkeit der europäischen Nationen im Allgemeinen und der Bundesrepublik im Besonderen so schnell wie möglich auszubauen.
Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hat heute verschiedene Maßnahmen zur Wiederaufrüstung vorgeschlagen, um die Verteidigungsausgaben in der Europäischen Union deutlich zu steigern, sowohl um kurzfristig zu handeln und die Ukraine zu unterstützen, „als auch um der langfristigen Notwendigkeit gerecht zu werden“. Sie stellte in einer Rede in Brüssel den „ReArm Europe“-Plan vor, den sie in einem Schreiben an die Staats- und Regierungschefs skizziert hat. Mit „ReArm Europe“ können ihrer Aussage zufolge fast 800 Milliarden Euro für mobilisiert werden.
Die Vorschläge konzentrieren sich laut von der Leyen darauf, wie alle zur Verfügung stehenden finanziellen Möglichkeiten genutzt werden können, um die Ausgaben für Verteidigungsfähigkeiten der Mitgliedsstaaten schnell und beträchtlich zu erhöhen.
Dieser Plan umfasst demnach fünf Teile:
- Der erste Teil des „ReArm Europe“-Plans besteht darin, öffentliche Mittel für die Verteidigung auf nationaler Ebene zu verwenden. Dazu soll den Mitgliedstaaten ein größerer haushaltspolitischer Spielraum eingeräumt werden und die Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts aktiviert werden. Dadurch können die Mitgliedsländer ihre Verteidigungsausgaben erheblich erhöhen, ohne dabei das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit einzuleiten. Würden die Mitgliedstaaten ihre Verteidigungsausgaben im Durchschnitt um 1,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) erhöhen, könnte dies über einen Zeitraum von vier Jahren einen haushaltspolitischen Spielraum von knapp 650 Milliarden Euro schaffen, rechnete von der Leyen vor.
- Der zweite Teil besteht laut der Kommissionspräsidentin aus einem neuen Instrument, mit dem den Mitgliedstaaten Darlehen in Höhe von 150 Milliarden Euro für Investitionen im Verteidigungsbereich bereitgestellt werden sollen. „Es geht im Grunde darum, besser zu investieren – und vor allem gemeinsam zu investieren“, so von der Leyen. Man spreche dabei von europaweiten Kompetenzbereichen. Beispielsweise Luft- und Raketenabwehr, Artilleriesysteme, Flugkörper sowie Drohnenabwehrsysteme, aber auch Cyberabwehr und militärische Mobilität. Dieses Instrument werde den Mitgliedstaaten dabei helfen, die Nachfrage zu bündeln und gemeinsam Käufe zu tätigen. Der Ansatz der gemeinsamen Beschaffung solle auch die Kosten senken, die Fragmentierung verringern, die Interoperabilität erhöhen und die industrielle Basis im Verteidigungsbereich stärken.
- Der dritte Teil betrifft laut von der Leyen die Nutzung des EU-Haushalts. „An dieser Stelle möchte ich verkünden, dass wir den Mitgliedstaaten zusätzliche Möglichkeiten und Anreize vorschlagen werden, damit sie entscheiden können, ob sie die kohäsionspolitischen Programme nutzen wollen, um die Verteidigungsausgaben zu erhöhen.“
- Die letzten beiden Aktionsbereiche des Plans zielen der Kommissionspräsidentin darauf ab, durch das Vorantreiben der Spar- und Investitionsunion und mithilfe der Europäischen Investitionsbank privates Kapital zu mobilisieren. In Summe geht sie davon aus, dass mit „ReArm Europe“ fast 800 Milliarden Euro mobilisiert werden können.
Unterdessen diskutieren in Deutschland die Union und SPD bei ihren Sondierungsgesprächen zur Regierungsbildung offenbar über die Einrichtung von zwei sogenannten Sondervermögen in Höhe von bis zu 900 Milliarden Euro, mit denen die Aufrüstung der Bundeswehr und der Ausbau der Infrastruktur finanziert werden sollen. Für den Bundeswehr sind dabei rund 400 Milliarden Euro vorgesehen, wie es zuletzt hieß. Bei den Sondervermögen handelt es sich anders als der Name insinuiert um einen Nebenhaushalt, für den Kredite am Kapitalmarkt aufgenommen werden.
Im Vergleich mit anderen großen Volkswirtschaften weist Deutschland mit einer Staatsschuldenquote von rund 63 Prozent am BIP im Jahr 2024 eine relativ geringe Verschuldung aus. Wie aus dem Monatsbericht des Bundesministeriums der Finanzen vom Februar 2025 weiter hervorgeht, wiesen Großbritannien im vergangenen Jahr mit 102 Prozent am BIP, Frankreich (113 Prozent), die USA (124 Prozent) sowie Italien (137) eine deutlich höhere relative Staatsverschuldung auf. In der EU liegt die Staatschuldenquote nur in Italien und Griechenland (153 Prozent) höher als in den Vereinigten Staaten.
Den Medienberichten zufolge sollen die beiden Sondervermögen noch von den Abgeordneten des alten Bundestages beschlossen werden, da im nächsten Bundestag die Parteien am rechten und linken Rand über eine Sperrminorität für Gesetze haben, die ein Zwei-Drittel-Mehrheit verlangen.
Wie verschiedene Medien aus den Gesprächen berichten, soll das Thema Bundeswehr ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Immer mehr Politiker fordern unterdessen die Wiedereinführung der Wehrpflicht. In den vergangenen Monaten hatte sich auch der CDU-Parteivorsitzende Friedrich Merz für die Wiedereinrichtung einer Wehrpflicht stark gemacht. Um die Streitkräfte schnell aufrüsten zu können, müssen allerdings auch die industriellen Kapazitäten ausgebaut und der bürokratische Beschaffungsvorgang von Friedens- auf Kriegsanforderungen umgestellt werden. Engpässe, die aufgrund des möglichen Ausfalls der US-Amerikaner im Bündnisfall ausgeglichen werden müssen, liegen unter anderem in den Bereichen integrierter Luftverteidigung und Flugkörperabwehr, Deep Precision Strike, Munitionsbevorratung, Elektronischer Kampf, Aufklärung und Führung sowie Satellitenkommunikation.
Lars Hoffmann