Der Krieg in der Ukraine zeigt, dass der bodengebundenen Luftverteidigung eine Schlüsselrolle zukommt. Um gegnerische Flugzeuge, Hubschrauber und Flugkörper abwehren zu können, sind im Luftverteidigungs-Verbund neben Boden-Luft-Raketen mit hoher Reichweite auch sogenannte Man Portable Air Defence Systems (MANPADS) erforderlich.
Nach Abgabe von solchen Systemen an die ukrainischen Streitkräfte müssen die Bundeswehr und andere europäische Streitkräfte ihre schon zuvor überschaubaren Bestände möglichst schnell ausbauen, um im Kriegsfall handlungsfähig zu bleiben. Deutschland hat deshalb bereits 500 Stinger-MANPADS in den USA bestellt. Dies reicht jedoch bei Weitem nicht aus, um den Bedarf der Bundeswehr, der bei mehreren Tausend Exemplaren liegen soll, zu decken. Da die Fertigungskapazitäten beim Hersteller Raytheon begrenzt sind, wird über eine andere Lösung nachgedacht: den Aufbau einer Fertigungslinie in Europa. Sollte dieser Ansatz umgesetzt werden, könnte die Produktion, die gegenwärtig bei mehreren Dutzend Raketen pro Monat liegen soll, verdoppelt werden.
Für das Vorhaben gibt es bereits eine Blaupause: Am Standort Schrobenhausen bereiten Raytheon und MBDA Deutschland gegenwärtig die Serienfertigung von GEM-T-Lenkflugkörpern vor, die für das Patriot-Luftverteidigungssystem vorgesehen sind. Um die für den Aufbau einer Linie erforderlichen Abnahmemengen sicherzustellen, haben mehrere europäische Länder – darunter Deutschland, die Niederlande und Rumänien – ihre Beschaffungen gepoolt, so dass eine Bestellung von 1.000 Stück – davon alleine 500 – für die Bundeswehr aufgegeben wurde. Das Projekt wird über die NATO Support and Procurement Agency (NSPA) abgewickelt.
Diese soll offenbar auch bei einer Stinger-Produktion wieder eine wichtige Rolle übernehmen. Wie es heißt, wurde die NSPA bereits über das Vorhaben informiert. Der Agentur obliegt es unter anderem, bei den US-Behörden auszuloten, welche Komponenten im Rahmen von Foreign Military Sales und welche durch einen Direktkauf beim Hersteller beschafft werden können.
Gut informierten Kreisen zufolge werden Deutschland und die Niederlande bei der Stinger-Produktion als Lead Nation fungieren. Wie es heißt, wurde bereits eine Anfrage an potenzielle europäische Partnerländer geschickt, ob Interesse an einer gemeinsamen Beschaffung von Stinger-Flugkörpern besteht.
Dem Vernehmen nach würde beim Aufbau einer Stinger-Fertigung in Europa dem deutschen Diehl-Konzern eine Schlüsselrolle zukommen. Das Überlinger Unternehmen wird unter anderem als Lieferant des Suchkopfs gehandelt, einer der wichtigsten Komponenten des Flugkörpers. Auch andere deutsche Zulieferer von Diehl könnten profitieren. Zusammengebaut würden die in den USA, Deutschland und Europa gefertigten und getesteten Komponenten dann möglicherweise in den Niederlanden.
Mit dem Aufbau einer europäischen Produktionslinie für Stinger könnte vergleichsweise schnell auf die stark angestiegene Nachfrage reagiert werden. Mittelfristig gehen Insider davon aus, dass die europäischen Staaten in die Entwicklung eines „Next Generation MANPADS“ einsteigen werden, wie sie es bereits bei anderen Lenkflugkörper-Klassen getan haben oder noch tun. Beispiele dafür sind der Luft-Luft-Flugkörper Meteor und das Projekt eines neuen Hyperschall-Abfangflugkörpers.
Während MANPADS in der Bundeswehr auch beim Heer im Einsatz sind, wird die integrierte bodengebundene Luftverteidigung von der Luftwaffe wahrgenommen. Beobachter erwarten auch hier einen Aufwuchs. So könnten die Patriot-Feuereinheiten von gegenwärtig neun – drei wurden an die Ukraine abgegeben – auf 17 aufwachsen, wenn die insgesamt acht neu bestellten Staffeln zugelaufen sind. Bei den Iris-T-SLM-Einheiten, von denen bislang sechs bestellt worden sind und sich im Zulauf befinden, wird von einem Bedarf von zwölf ausgegangen.
Lars Hoffmann